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Dialog und Begegnung ermöglichen ein «Picknick im Quartier»
Dialog und Begegnung ermöglichen ein «Picknick im Quartier»

Dialog und Begegnung ermöglichen ein «Picknick im Quartier»

Haben Sie schon einmal ein Picknick organisiert? Allein oder mit anderen zusammen? Wen laden Sie ein? Haben alle Platz? Darf man eigentlich hungrig vor Ort erscheinen? Und wenn die Speisen nicht schmecken oder Gäste fernbleiben – was dann? Dieser Beitrag beleuchtet ein Picknick, das keines ist, doch für den Zusammenhalt und die Entwicklung eines ganzen Quartiers eine Schlüsselrolle übernimmt.

Text: Ruth Nieffer / Grafiken: Wright, Block, & von Unger, FH Graubünden

Die Leitung des Seniorenzentrums Rigahaus träumt von einem Picknick im Churer Stadtquartier Brandis. Ein Picknick, zu dem die Menschen, die dort leben, das mitbringen, was ihnen möglich ist – und von dem sie (mit)nehmen, was sie in ihrem Lebensalltag gerade stärkt. Die Metapher «Picknick» versinnbildlicht die Idee einer «sorgenden Gemeinschaft», die entstehen soll: eine Gemeinschaft von Menschen, die dasselbe Quartier, dieselbe Gemeinde oder eine bestimmte Region als Lebensraum verstehen, in dem sie füreinander sorgen und sich gegenseitig unterstützen. Das Verständnis von Geben und Nehmen, so wie jede und jeder gerade kann, bildet den Nährboden, damit alle gemeinsam Verantwortung für soziale Aufgaben übernehmen.

Konzeptionell bündelt eine sorgende Gemeinschaft oder «Caring Community» – vereinfacht formuliert – drei Perspektiven. Erstens: «Wie will ich leben?», zweitens: «Welche Wünsche habe ich diesbezüglich an mein Umfeld (Familie, Verwandtschaft, Freunde, Nachbarschaft etc.)?» und drittens: «Was erwarte ich vom Staat?» Entlang dieser drei Perspektiven wurde ein «Caring Community»-Modell entwickelt, an welchem sich das Vorhaben im Churer Stadtquartier Brandis orientiert. Das Picknick soll Realität werden.

Auf dessen Menükarte steht die zentrale Frage: «Wie gelingt Älterwerden in und mit (m)einem Quartier?» Die Fachstelle Alter der Stadt Chur und die Leitung des Rigahauses engagieren sich als Co-Projektleitende dafür, Antworten auf diese Frage zu finden. Unterstützt werden sie dabei von der Fachstelle Gesundheitsförderung des Gesundheitsamtes Graubünden im Rahmen des Angebots «Lokal vernetzt älter werden». Das Zentrum für Verwaltungsmanagement (ZVM) der FH Graubünden übernimmt die Prozessbegleitung. In dieser Funktion beraten Fachpersonen die Co-Projektleitenden oder übernehmen punktuell Moderationsaufgaben. Wer denkt, Fachpersonen erarbeiten Massnahmen und geben diese zur Umsetzung an die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers weiter, der irrt.

Das ist nicht die gemeinte Form von Geben und Nehmen. Sie widerspricht der eingangs erwähnten Idee einer Caring Community ebenso wie der in der sogenannten Ottawa-Charta verankerten Grundhaltung zur Gesundheitsförderung. Massnahmen, die Menschen befähigen sollen, positive und negative Einflüsse auf ihr Wohlbefinden zu erkennen, und sie entsprechend zum Handeln bewegen, können nicht von «oben» oder von Fachleuten verordnet werden. Solche Massnahmen müssen mit lokalem Wissen entwickelt werden. Über lokales Wissen, verstanden als lebensweltorientierte Erfahrungen, verfügen die Menschen vor Ort. An ihren Interessen und den Gegebenheiten vor Ort sind zu entwickelnde Massnahmen auszurichten. Damit die Speisen beim Picknick im Quartier schmecken, müssen für deren «Zubereitung» die potenziellen Gäste gewonnen werden.

Teilnahme und Teilhabe als Ziel

Die Massnahmenentwicklung zur Gesundheitsförderung legt besonderen Wert auf partizipative Methoden und richtet den Fokus damit auf die Partizipation aller Betroffenen. Eine hohe Stufe an Partizipation ermöglicht es, tragfähige Massnahmen zu entwickeln. Dazu ist nicht nur Teilnahme, sondern auch Teilhabe an Entscheidungsprozessen – bis hin zu Entscheidungsmacht – erforderlich. Partizipation ist zudem ein Entwicklungsprozess, der je nach Projektbedingungen, Vor-Ort-Gegebenheiten und verfügbaren Ressourcen unterschiedlich abläuft. Mittels Anwendung eines Stufenmodells (Abb. 1) kann reflektiert werden, welche Partizipationsstufe den Anforderungen an die Massnahmenentwicklung entspricht. Als erstrebenswert gilt, dass Betroffene respektive deren legitime Vertreterinnen und Vertreter die höchstmögliche Stufe erreichen. Zu Beginn des partizipativen Vorgehens sind allerdings eher niedrigere Stufen respektive Vorstufen der Partizipation realisierbar. 

Abbildung 1: Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung (Wright, Block, & von Unger 2010)
Abbildung 1: Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung (Wright, Block, & von Unger 2010)

Die «Kreise der Entscheidung» (Abb. 2) ermöglichen eine Bestandsaufnahme aller involvierten Akteurinnen und Akteure und zeigen auf, wo diese in Bezug auf die Partizipation stehen. So können Erwartungen an die Einflussnahme transparent diskutiert werden.

Abbildung 2: Kreise der Entscheidung (Wright, Block, & von Unger 2008)
Abbildung 2: Kreise der Entscheidung (Wright, Block, & von Unger 2008)

Die Wahl und Anwendung möglicher partizipativer Methoden ist je nach Fragestellung unterschiedlich. Methodisches Vorgehen trägt jedoch erheblich zur erfolgreichen Partizipation bei. Idealerweise ist die gewählte Methode auf die Zusammensetzung der Teilnehmenden vor Ort sowie auf die Fähigkeiten der Projektleitenden, diese Methode einzusetzen, abgestimmt. Zudem soll die gewählte Methode praktikabel sein, das heisst mit einem zumutbaren Umfang an zeitlichen, personellen und materiellen Ressourcen Erkenntnisse oder Handlungsmöglichkeiten generieren. Somit steht dem Picknick nun nichts mehr im Weg.

Hürden, die es zu überwinden gilt

Bislang unerwähnt, jedoch unerlässlich für die Partizipation ist, dass die von der Fragestellung Betroffenen oder ihre legitimen Vertreterinnen und Vertreter erreichbar sind – und somit angesprochen und eingeladen werden können. Dieser Aspekt ist in der Projektlogik meist keinen Meilenstein wert, doch in der Realität alles andere als selbstverständlich. Mangelnde Einbindung im Quartier, geringe Sensibilisierung für Partizipationsformen, Aufwand und Ertrag einer Beteiligung, die als unverhältnismässig eingeschätzt werden, sowie eingeschränkte Mobilität oder fehlende Schlüsselqualifikationen wie etwa sprachliche Ausdrucksfähigkeit – all diese Punkte verdeutlichen, welche Erreichbarkeitshürden der «Partizipationseuphorie» einen Dämpfer versetzen können. Also «aus der Traum» von einem Picknick?

Nicht unbedingt. Bei der Ausführung eines wohlüberlegten Projekts nach Modell X und Methode Y sollten die zuständigen Fachleute jedoch eine elementarere Vorgehensweise anstreben: Es sind Gelegenheiten und Orte zu schaffen, wo Menschen sich begegnen, austauschen und Beziehungen aufbauen können – insbesondere zu älteren Quartierbewohnerinnen und -bewohnern. Ganz nach dem Zitat des jüdischen Philosophen Martin Buber: «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.» Vor der Partizipation steht also der Dialog. Wesentliche Instrumente hierfür sind zwischenmenschliche Kommunikation und Mut zum Gespräch sowie eine interessierte Anteilnahme: «Wie lebst du so im Quartier?» Sind diese Aspekte gegeben, kommt ein erster Beitrag für das gemeinsame Picknick zustande.